Christian Ludwig Mursinna (1744–1823)

Beruf und Verdienste

Mursinnas Vater wollte, dass Christian Ludwig das Tuchmacherhandwerk erlernt, um dann später seinen Handwerksbetrieb zu übernehmen. Der Sohn hatte aber ganz andere Vorstellungen. Ihn zogen die Wissenschaften, besonders die Medizin an. Gegen den Willen seines Vaters erreichte er beim Magistrat der Stadt Stolp, dass er zunächst eine Lateinschule besuchen und dann 1757 bei einem Bader in Stolp, später beim Stadtchirurgen in Kolberg in die Lehre gehen durfte. Im Siebenjährigen Krieg war er bereits als Wundarzt in verschiedenen preußischen Lazaretten tätig und wurde dann sehr schnell auch zur Ausbildung der Wundärzte mit herangezogen. Sein Fleiß und seine überragenden ärztlichen Erfolge waren die Basis für eine rasche Karriere. 1787 wurde er zum Professor der Chirurgie und zum wirklichen General-Chirurgus ernannt. Europaweit wurde er bekannt für die großen Heilungserfolge bei seinen Operationen des grauen Stars. 1817 wurde er als General-Chirurgus in den Ruhestand versetzt, seine Lehrtätigkeit beendete er aber erst 1820. Er verfasste mehrere medizinische Fachbücher, zahlreiche Fachberichte und gab zwischen 1800 und 1820 das Journal für Chirurgie, Arzneikunde u. Geburtshilfe heraus.

(Das nebenstehende Bild stammt aus dem Pommerschen Biographischen Archiv der ZBC Pomerania. Der Maler ist  möglicherweise Philip Franck, vermutlich 1810)

Preise, Ehrungen und Auszeichnungen

  • 1798 Ehrung mit einem Doktordiplom durch die medizinische Akademie zu Jena.
  • 1799 Ernennung zum Mitglied der societatis artem obstetriciam amantium in Göttingen.
  • 1799 Ernennung zum Mitglied der Römischen Kaiserlichen Königlichen Josephinischen Medicinisch-Chirurgischen Akademie zu Wien, verbunden mit dem 2. Preis für seine Behandlung der Kopfwunden und der dabei zu unternehmenden Trepanation.
  • 1812 Verleihung des Roten Adlerordens 3. Klasse.

Lebensdaten und Familie

* 17. Dezember 1744 in Stolp
+ 18. Mai 1823 in Berlin

 

Am 25. Juli 1776 heiratete er in Bielefeld ein "köstliches Mädchen" aus Potsdam, Charlotte Caroline Helmholz. Die Ehe währte 33 Jahre und es wurden sieben Kinder geboren, wovon im März 1811 jedoch nur noch zwei Töchter lebten.

 

Sein Großvater Samuel Mursinna (auch Morsinna geschrieben) war um 1666 vermutlich in der Schweiz geboren. Zwischen 1703 und 1706 wanderte er, zusammen mit mehreren aus Basel, St. Gallen und Winterthur stammenden Landsleuten nach Preußen aus. Ein Grund für die Auswanderung ist nicht überliefert. Die Stadt Stolp erlaubte die Ansiedlung des Tuchmachers, zusammen mit dem Knopfmacher Georg Kunz aus St. Gallen. Im Jahr 1707 heiratete er die Tochter des Innungsobermeisters der Tuchmachergilde von Stolp, Gertrud Janke. Sie schlossen sich der reformierten Johannesgemeinde in Stolp an. Aus dieser Ehe sind zwei Söhne überliefert, Johann der ältere, welcher seinem Vater im Handwerk folgte, und Samuel, welcher Professor der Theologie in Halle wurde. In zweiter Ehe heiratete er 1737 Anna Margarete Westphal.

 

Sein Vater war Johann Mursinna, der Tuchmacher. Dessen Frau war eine Tochter des bereits erwähnten Knopfmachers aus St. Gallen, mit der er bis zu seinem Tod 30 Jahre verheiratet war.

Lebensbeschreibung

Aus Anlass des 50-jährigen Dienstjubiläums am 5. März 1811 erstellte Christian Ludwig, auf Bitten seiner Freunde, eine "Selbstbiographie". Sie wurde als Andenken an diesen Tag als Festschrift gedruckt und überliefert uns seine erstaunliche Karriere. Als Einstieg in die Schilderung seines Lebens umschreibt er seinen beruflichen Bereich: "Doktor der Medizin, General-Chirurgus, Professor der Chirurgie, Mitglied der wissenschaftlichen Deputation für das Medizinalwesen, dirigierender Wundarzt an der Charité, und Arzt am Invalidenhause, Mitglied der k. k. josefinischen Akademie in Wien und der Gesellschaft der Freunde der Geburtshilfe in Göttingen."

(Der nebenstehende Kupferstich war Teil der Festschrift. Er liegt bei der Tartu University Library als Digitalisat vor.)

 

Schule und Lehre

Mitte des 18. Jahrhunderts besuchte er die normale Volksschule in Stolp. Aber aufgrund seines Talents und seiner Beharrlichkeit erreichte er es später, dass der Magistrat der Stadt ihn in die Lateinschule schickte. Mit 12 Jahren aber nahm ihn der Vater von der Schule und es begann für ihn eine Lehre im Tuchmacherhandwerk. Er sollte ja schließlich den väterlichen Betrieb übernehmen. Aber auch hier half ihm der Magistrat der Stadt wieder aus dieser nicht angestrebten Laufbahn, so dass er mit 13 Jahren bei einem Bader namens Einsiedel in Stolp in die Lehre gehen konnte. Nach nur einem Jahr setzte er auf Vermittlung des Magistrats seine Lehre bei dem berühmten Stadt-Chirurgus Krugschrank in Kolberg fort. Dort kam er zum ersten Mal mit Kriegsverletzten in Berührung. Die Stadt wurde in den Jahren 1758 bis 1760 dreimal von den Russen belagert. Sein Lehrherr wurde bereits bei der ersten Belagerung durch eine Bombe getötet. Nach der Übergabe der Stadt arbeitete er ohne Gehalt in den preußischen und russischen Lazaretten.
Am 5. März 1761 wurde er vom damaligen General-Chirurgus Theden zum förmlichen Lazarett-Chirurgus ernannt. Damit begann also seine Zeit in preußischen Diensten.

 

Kriegseinsätze und Selbststudium

Nach Einsätzen in den Feldlazaretten Stettin und Berlin wurde er zu einem Lazarett in Schlesien beordert. Preußen belagerte die Stadt Schweidnitz, um sie von Österreich zurückzuerobern. 17 Jahre alt, bekam er dort die Patienten mit Kopfwunden zur Versorgung, allerdings unter einer guten Anleitung eines Spezialisten. Nach einem dreimonatigen Lazarettaufenthalt in Breslau, wo er selbst sich aufgrund von Erschöpfung und Krätze auskurieren musste, wurde er zur Behandlung der verwundeten Österreicher eingesetzt. Dort hatte er Gelegenheit, seine Studien der Anatomie und Osteologie in den ärztlichen Weiterbildungen zu verfolgen.

 

Postdam, Berlin und Studium

Nach dem Ende des Siebenjährigen Krieges (1756-1763) wurden die Lazarette allmählich aufgelöst und Christian Ludwig wurde mit der Verlegung von 200 Verwundeten nach Berlin betraut. Als er schließlich nach drei Wochen dort ankam, waren inzwischen alle Stellen bei den Regimentern vergeben, so dass er seinen Abschied erhielt. Zusammen mit zwei anderen Chirurgen wohnte er vor den Toren der Stadt und schlug sich mit dem Verkauf seiner medizinischen Aufzeichnungen durch. Letztendlich musste er eine Arbeit in einer Barbierstube annehmen. Aber nebenbei besuchte er Vorlesungen über Physik, Chirurgie, Physiologie und andere, solange ihm das Vorlesungsgeld erlassen wurde, bis er bei dem Dozenten Dr. Wolf als Famulus angestellt wurde. Nach zwei Jahren begann er, für arme Studenten und eine Gebühr von einem Taler selbst Vorlesungen zu halten.
Im Jahr 1765 bekam er wieder eine feste Anstellung als Kompanie-Chirurgus, 1767 wechselte er zur Garde nach Potsdam. Dort traf er wieder mit seinem Freund und Chirurgen Professor Boitus zusammen, der ihn innerhalb von vier Jahren zum künftigen Arzt vorbereitete. Auf Vorschlag ernannte ihn der König 1772 zum Pensionär-Chirurgus, was einen Umzug nach Berlin und die Möglichkeit eines fortführenden Studiums mit sich brachte. Eine Anstellung als vorstehender Wundarzt in der Charité folgte im Jahr 1775. Mit dieser Tätigkeit begannen seine praktischen Erfahrungen als Arzt, Wundarzt und Geburtshelfer.

 

Weitere Kriegseinsätze, Beginn der Veröffentlichungen und ein Knick in der Laufbahn

Friedrich der Große ernannte ihn 1776 zum Regiments-Chirurgus im Regiment von Petersdorf in Bielefeld. Das Regiment wurde im bayrischen Successionskrieg 1778 eingesetzt und Christian Ludwig konnte praktische Erfahrungen in Sachsen und Böhmen bei der Bekämpfung der Ruhr und des Faulfiebers sammeln. Diese Kenntnisse konnte er, 1779 zurückgekehrt nach Westfalen, bei der dort grassierenden Ruhr anwenden. Seine Erfahrungen hielt er in seinem ersten Buch "Beobachtungen der Ruhr und der Faulfieber" fest. Es folgten in dieser Zeit weitere Veröffentlichungen zu medizinischen Fachbereichen. Nach 10 Jahren, am 5. Oktober 1786, wurde er zum Regiment von Möllerdorf nach Berlin versetzt. Im darauf folgenden Jahr wurde er, nach dem Tod seines Freundes Boitus, zum wirklichen General-Chirurgus befördert. Kurz danach erfolgte die Ernennung zum Professor der Chirurgie.
Die unruhigen, von Kriegen gekennzeichneten Jahre waren aber noch nicht vorbei. 1790 wurde er bei Ausbruch des Krieges mit Österreich für vier Monate nach Schlesien beordert und 1795 nach Polen. Dieser Feldzug endete nach 18 Monaten.
Im Jahr 1797 starb General-Chirurgus Theden, einer seiner Ziehväter. Christian Ludwig hatte sich die größten Chancen auf die Nachfolge ausgerechnet, doch der König zog einen anderen für diesen Posten vor. Dieses Vorgehen empfand er als kränkend und entwürdigend. Auch die großzügige Geste, indem ihm zu seinem Gehalt noch das Gehalt des General-Chirurgus als Entschädigung gezahlt wurde, konnte eine Phase der Niedergeschlagenheit nicht verhindern.

Im Jahr 1806 begleitete er wiederum die Armee im Kampf gegen Napoleon. Im Jahr 1809, im Zuge der Verkleinerung der preußischen Armee, wurde er vom König als General-Chirurgus in den Ruhestand versetzt. Er blieb aber weiterhin bis 1820 Professor der Chirurgie und bis 1818 dirigierender Wundarzt in der Charité.

 

Lebenswerk

Christian Ludwig Mursinna hat sich, wir würden heute sagen auf dem zweiten Bildungsweg, durch unermüdlichen Fleiß und sein medizinisches Talent bis in die höchsten militärischen und zivilen Verwendungen hochgearbeitet. Von einer Unterstützung durch seine Eltern hat er nicht berichtet, lediglich von der Förderung durch den Magistrat seiner Heimatstadt Stolp. In einer durch ständige Kriege gekennzeichneten Zeit hatte er sehr viel Glück, zeigte aber auch einen ernormen Willen, trotz der widrigen Umstände die bestmögliche Behandlung seiner Patienten sicherzustellen. Seine medizinisch-fachlichen Veröffentlichen haben ihm sehr viel Anerkennung gebracht. Er selbst sagt aber, dass ihm die über 900 Operationen des grauen Stars, von denen nur 41 nicht erfolgreich waren, die größte Freude verschafft haben, weil er den Patienten das "Gesicht", also die Sehfähigkeit wieder geben konnte. Zu seiner Zeit mag er in Stolp ebenso bekannt und beliebt gewesen sein, wie später der "Postmeister" Heinrich von Stephan.

Beim Studium der Literatur stößt man in Verbindung mit Mursinna, sowie mit einem Landarzt im Aachener Raum unverhofft auf das heute heiß diskutierte Thema der aktiven Sterbehilfe. Als Kriegschirurg hat Christian Ludwig ganz sicher bei der ärztlichen Betreuung vieler Schwerstverletzter seine eigenen Gedanken dazu gehabt. In einem Bericht über einen Krankheitsfall erwähnt er das Thema im Jahr 1801 zwar, sagt jedoch nichts dazu in seiner Autobiographie. Christian Wilhelm Hufeland, ein Arztkollege Mursinnas in der Charité nimmt das Thema in einer Veröffentlichung 1806 ganz bewusst auf, und begründet darin seine Auffassung, ein Arzt dürfe "nichts anders thun, als Leben erhalten". Da hier nicht der Platz ist, die verschiedenen Aspekte mit der gebotenen Sorgfalt zu behandeln, wird auf einen Artikel von Prof. Michael Stolberg im Deutschen Ärzteblatt 2009 verwiesen, der als Digitalisat verfügbar ist.

Werkeverzeichnis (Auszug)

  • Beobachtungen der Ruhr und der Faulfieber, Berlin 1780; 2. Aufl. 1782, Digitalisat (Google Bücher, 23.02.2010)
  • Medizinisch-chirurgische Beobachtungen, nebst einigen Anmerkungen darüber, Teil 1 u. 2, Berlin 1782, 1783; 2. Aufl. 1796
  • Abhandlung von den Krankheiten der Schwangeren, Säuglinge, Gebärenden, Wöchnerinnen und Nothlager, Band 1 u. 2, Berlin 1784, 1786; 2. Aufl. 1792
  • Berichtigung des Sendschreibens des Herrn Hofrath Hagen in Berlin an den Herrn Hofrath Stark zu Jena, über zwei schwere Geburtsfälle. Zur Erforschung der Wahrheit, Berlin 1791
  • Neue medicinisch-chirurgischen Beobachtungen, Berlin 1796
  • Journal für Chirurgie, Arzneykunde und Geburtshülfe, 5 Bände, herausgegeben 1801-1815
  • Beobachtungen eines sehr schweren Geburtsfalles etc., in: Starcks Archiv für die Geburtshülfe, Band 5, 1793
  • Vom Steinschnitte über den Schambeinen etc. (in Arnemanns Magazin)
  • Geschichte der Ausrottung der Hoden etc. (in Loders Journal)
  • Versuch der Vereinigung des nach der Geburt zerrissenen Mittelfleisches vermittelst der blutigen Nath (in Loders Journal, 1. Band, 4. Stück)
  • Von der Ausschälung einer sehr großen, limphartigen Geschwulst über dem Bauchringe (in Loders Journal, 2. Band, 3. Stück)
  • Geschichte einer widernatürlichen Zwillingsgeburt und der dabei erfolgten heftigen Blutung etc. nebst Bemerkungen über ähnliche Fälle, und über das Nachgeburtsgeschäft (in Loders Journal, 2. Band, 1. Stück)
  • Beitrag zur Operation des Hasenscharts (in Loders Journal, 2. Band, 2. Stück)

Quellen:

  • Beck, Christian Daniel (Hrsg.): Allgemeines Repertorium der neuesten in- und ausländischen Literatur für 1823, 2. Band, Leipzig 1823, S. 329, Digitalisat (Google Bücher, 23.02.2010)
  • Gurlt, Ernst: Christian Ludwig Mursinna, in: Allgemeine Deutsche Biographie (ADB), Band 23, Leipzig 1886, S. 81-84
  • Hartung, Arved: Die Mursinnas, in: Ostpommersche Heimat, Jahrgang 1936, Heft 1, s. Literatur
  • Mursinna, Christian Ludwig: Selbstbiographie, in: Ostpommersche Heimat, Jahrgang 1936, Heft 2-6, s. Literatur
  • Schmidt, Friedrich August (Hrsg.): Neuer Nekrolog der Deutschen, 1. Jahrgang 1823, 2. Heft, Ilmenau 1824, S. 443, Digitalisat (Google Bücher, 23.02.2010)
  • The Church of Jesus Christ of Latter-Day-Saints, www.familysearch.org, International Genealogical Index, Batch-Nr. C996031, M996031, C998891

 

(Peter Kohlhas)