Stolper Kalenderblatt

Sagen und Bräuche (Nov./Dez. 2010)

von Anita Weißpflog (Kommentare: 0)

Das lilablaue Brezelmännchen

In einer alten nordischen Stadt mit engen Gassen und seltsamen Giebelhäusern, die nachts beim Mondenscheine gespenstige Schatten warfen, lebte einst ein reicher Brezel- und Zuckerbäcker. Ein feiner würziger Duft zog wie ein Küchlein vom guten Leben durch die alten Straßen mit dem holprigen Pflaster, in der der Bäcker wohnte. Ein jeder, der daher kam, zog den Duft mit tiefen Zügen ein und blieb an den kleinen Schaufenstern stehen, in denen das herrliche Feingebäck, die Rosinen- und Mandelkuchen und die feinen Marzipane strahlend in Schönheit und Wohlgeruch ausgebreitet lagen. So lecker war jeder Kuchen, als wollte er dem Betrachter zurufen: so iss mich doch, ich munde gar so trefflich!

 

So ist denn mancher die ausgetretenen Steinstufen hochgestiegen und mit duftendem Paket unterm Arm wieder herausgekommen. Und, weil der Meister ein bescheidener und frommer Mann war, der sein Fach verstand, so sind die Groschen und Talerstücke durch die holprigen Straßen in immer größerer Zahl zum Zuckerbäcker gerollt. Da im allgemeinen Ordnung und Sauberkeit herrschte, so konnte es nicht ausbleiben, dass der Zuckerbäcker gemach wohlhabend und zuletzt reich wurde. Kurz, es lag ein Segen über dem Hause, dass die Leute sagten, es sei eine Goldgrube. Doch hatte es damit seine eigene Bewandtnis, wie wir bald sehen werden.

 

Wie es so in einer alten Straße nicht anders sein kann, stand dem Hause des reichen Brezel- und Zuckerbäckers ein anderes, nicht minder altes, gegenüber. Ein hoher geschwungener Giebel schmückte es. Zwei kleine offene Luken schauten wie Augen auf das buntbewegte Bild der alten Straße und auf die wunderlichen Leute, die dort in vornehmem Stolz oder im Hasten des Tages einhergingen. Etliche Risse am Haus gaben ihm ein Aussehen, als ob es auch den süßen Duft einatmend, schmunzelnd das Gesicht verzogen hätte.

 

In diesem Hause wohnte ein braver Schiffskapitän, der die reichbeladenen Schiffe seines Herrn oft mit Geschicklichkeit und Mut durch mancherlei Fährnisse in den sichern Hafen gesteuert hatte und sich darob guten Ansehens erfreute. War der Vater gerade unterwegs, so saß seine tugendsame Frau wohl in der Dämmerstunde am Fenster, auf dem Schoß die kleine Ingeborg und zur Seite die beiden Buben, die an Wildheit nichts zu wünschen ließen. Dann erzählte sie ihnen mit lustig zwinkernden Äuglein seltsame Märchen und Geschichten. Unverwandt schaute dann die kleine Ingeborg herunter auf die langen, mehlbestreuten Tische, auf denen ausgebreitet die süßen Leckereien lagen. Was gab es da alles zu sehen und wie viel! Wie wunderlich verzerrt sahen durch die Butzenscheiben die Brezel und Baben oft aus.

 

Da war es denn, dass die Kleine oft erschrocken auffuhr und ganz aufgeregt auf die Backstube zeigend, sagte: „Mutti, Mutti, hast du das seltsame Männchen unten gesehen, das lilablaue?“ Aber niemand hatte es gesehen als das Kind. Die Mutter meinte gar, es wäre eine fallende Brezel gewesen. Aber da nach einem alten Spruch Tage des Glückes nie beständig sind, so kehrte auch hier, grau und bleich das Unglück ein, indem die Nachricht kam, Schiff und Kapitän seien in die Hände feindlicher Kaperer gefallen und der Vater schmachte im finstern Turm, viele Meilen von der alten Stadt entfernt. Da waren alle sehr traurig und sonderlich der kleinen Ingeborg kullerten aus den sonst so blanken und wundersüchtigen Augen große schmerzensvolle Tränen; denn sie hatte ihren Vater sehr lieb. Weil nun obendrein ein Unglück selten allein zu kommen pflegt, so kehrte hier bald ein zweiter ungebetener Gast, die Not, ein. Und dann kam der Hunger. Alle drei führten, begleitet von den Tränen und dem Schluchzen der Familie dort im alten Kapitänshause ihre Tänze auf. Das gütige Mutterherz tröstete. Aber die Buben hatten die Wildheit verlernt und die roten Bäckchen des kleinen schmucken Mädchens waren bleich und schmal geworden. Meistens standen dicke Tränen darauf. Oft traf es die Mutter, dass es unversehens am Fenster stand, die Händchen gefaltet hatte und den lieben Gott bat, doch den guten Vater wieder heimzuführen. Doch der saß inzwischen in gleicher Weise verhärmt, an Ketten gefesselt, im finstern Turm und harrte seines traurigen Schicksals.

 

Da geschah es just, dass der reiche Zuckerbäcker durch die Überfülle des Glückes stolz und hoffärtig wurde. Er wollte nicht mehr selbst arbeiten, und sein altes Haus, aus Vätertagen ererbt, deuchte ihm nicht mehr schön genug. Viele Handwerker ließ er kommen, die ein- und ausgingen und alles von unterst zu oberst kehrten. Als nun eines Abends die kleine Ingeborg in ihrem Bettchen lag und nicht einschlafen konnte, weil sie wieder viel geweint hatte, hörte das Kind an der Tür ein leises Klopfen und eine melodische Stimme, wie feine Musik, bat um Einlass. Da öffnete die Kleine die Tür ein wenig und hinein huschte ein winziges Männchen in schönem, lilablauen Samtanzug mit Rüschen und Spitzen und mit dunkelblauen Schuhchen mit goldenen Schnallen. Es sagte: „Ich bin das lilablaue Brezelmännchen und habe bis jetzt drüben beim Zuckerbäcker gewohnt, dem meine Anwesenheit Glück und Segen brachte. Aber das habe ich nun davon, der Undankbare ist hochmütig geworden und verschläft die Arbeit.. Sein altes Haus, voller Winkel und Nischen, baut er um. Dabei ist auch meine Wohnung zerstört worden. Nun komme ich zu dir, du kennst mich schon“, sagte es zutraulich, „und bitte dich um Obdach“. „Sieh mal, dort an der Wand, hinter dem alten verräucherten Balken, ist ein Spalt und dahinter ein bequemes Stübchen. Dort möchte ich wohnen. Niemand weiß von dem winzigen Raum. Gewähre mir Obdach und ich will dir dankbar sein.“

 

Mit klopfendem Herzen hatte die kleine Ingeborg zugehört. Ihre Äuglein blitzten voll Hoffnung auf, als sie sagte: „Gern, du kleines lilablaues Brezelmännchen will ich dich aufnehmen und recht lieb zu dir sein. Ich will dich hegen und pflegen, aber kannst du auch meinen armen Vater aus dem Turm im fremden lande befreien und uns allen zurückbringen?“ Leise schluchzend erzählte sie ihm ihr Herzeleid. Das zierliche Männchen wurde bei der Erzählung so traurig, dass es sich mehrfach mit seinen runzligen Händchen über die Augen fuhr und seine eisgrauen locken dazu schüttelte. Nach einigen Nachsinnen sprach es dann: „Das ist zwar eine sehr schwere Aufgabe, aber mit Gottes Hilfe hoffe ich sie zu bewältigen.“

 

„Höre zu. Im Hafen liegt ein großes Schiff, das in den nächsten Tagen in jene Stadt jenseits des Nordmeeres fährt. Darauf wohnt ein entfernter Verwandter von mir, der Klabautermann, mit dem will ich reden.“ „Ja, der muss Rat schaffen“, sagte es, wie zu sich selbst. „Habe nur Geduld, du liebes Kind und bleibe so lieb, wie bisher, dann wird noch alles gut. Doch darfst du mit Niemanden über meine Anwesenheit hier sprechen.“

 

Nach diesen Worten huschte es in sein neues Heim. Bald war die kleine Ingeborg eingeschlafen und träumte selig von der Rückkehr des Vaters und vom glücklichen Wiedersehen.  Tage und Wochen vergingen. Als das Kind nichts mehr sah und hörte, glaubte es, geträumt zu haben und war ganz betrübt. Auch wenn es zärtlich lockte und rief war kein Männchen zu sehen. Es hatte aber doch damals so genau die kleinen goldenen Schuhschnallen im Mondlicht blitzen sehen. Da kam eines Nachts unvermutet der Vater heim. Er sah bleich und verhärmt aus. Was war das für eine Freude! Alle lachten vor Glück und Dankbarkeit durcheinander. Inmitten der Wiedersehensfreude sah keiner das lilablaue Brezelmännchen hinterm verräucherten Balken  Freude und Glück der Familie beobachten. Dann erzählte der Vater eine seltsame Geschichte, wie eines Nachts in seinem finstern und kaltem Steingefängnis zwei kleine Männchen erschienen seien. Das eine hatte einen graues Anzüglein mit Südwester an und einen schaukelnden Gang wie ein Seemann. Das andere stand im schönsten lilablauen Samtanzug da. Sie sagten ihm, dass sie im Auftrag seiner Tochter Ingeborg kämen und ihn erretten wollten. Er solle sich nur ganz still verhalten und tun, was sie ihm sagten. Der Kapitän glaubte seinen Augen und Ohren kaum zu trauen, doch gelobte er den Wundermännchen Gehorsam. Nun gingen sie an die Arbeit. Blitzschnell waren die Ketten durchgefeilt. Ein derber Schiffsanzug lag bereit und fort ging es, am schlafenden Wächter vorbei, zum Schiff, wo ihn das Klabautermännchen, denn das war der graue Zwerg, sorglich hinter großen Frachtstücken versteckte. So kam er glücklich heim, nachdem er sich bei seinen Errettern vielmals bedankt hatte. Mit größter Verwunderung hörten alle zu.

 

Als der Vater seinen Bericht beendet hatte, herzten und küssten sie die kleine Ingeborg. Trotz strahlender Freude in ihren blauen Äuglein wehrte sie den Dank ab. Der käme nur den Brezelmännchen zu. Da trat dieses plötzlich in den Lichtkreis der Lampe und sprach mit glockenreiner Stimme: „Deine Ingeborg, Kapitän, hat ein gutes Herz. Ihren Kinderaugen zuliebe, in denen ich seinen Kummer sehen konnte, habe ich dich befreit. Sie braucht nun auch nicht mehr zu schweigen. Ich sehe nun aber, dass ihr alle gute und hilfsbereite Menschen seid. So lange ihr so bleiben werdet und mir Obdach gewähret, solange wird das Glück hier nicht weichen. Fremden gegenüber aber dürft ihr nichts sagen, sonst kommen böse Leute und stellen mir nach. Glückauf euch allen!“

 

Nach diesen Worten verschwand das Männchen. Der Kapitän erholte sich bald und konnte seinen Dienst wieder aufnehmen. In dem Maße aber, wie beim reichen Zuckerbäcker in seinem schönen neuen Hause das Glück abnahm, kehrte es hier ein. Bald konnte der Kapitän eine eigene Reederei gründen und sich selbst Schiffe kaufen, die mit tüchtigen Schiffsführern nach fremde Länder fuhren. Dabei ist er dann reich geworden, aber sein allzeit bescheidenes Herz hat er behalten. Seine Söhne wurden gute Kapitäne und aus der kleinen Ingeborg wurde ein gar feines schönes Fräulein, das später den mächtigen Bürgermeister der Stadt heiratete. Aber noch oft vereinte das trauliche Stübchen, indem auch das lilablaue Brezelmännchen sein neues Heim gefunden hatte, die Familie und alles war in glücklicher Eintracht, bis an das Ende ihrer Tage.

 

Quelle: Heimatkalender "Der Landmann" 1931, S. 62-65

 

 

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