Stolper Kalenderblatt

Büchertipp (Jan./Febr.)

von Henry Kuritz (Kommentare: 0)

Rebecca Lutter - Sommerwege

Rebecca Lutter

Sommerwege unterm Schnee. Eine Kindheit in Pommern
Verlag Langen und Müller, 1. Aufl. 1989

 

Rebecca Lutter wurde 1930 in Stolp geboren und lebte dort bis zur Flucht im Januar 1945. Mit ihren persönlichen Erinnerungen ruft sie zugleich immer wieder das Bild dieser Stadt und das Leben dort wach. Sie erzählt so lebendig und anschaulich, daß wir mit der kleinen Anna, so nennt die Erzählerin sich, durch die Straßen Stolps und am Strom entlang gehen, um den Großvater zu besuchen und seinen Erzählungen über Holzkathen zuzuhören, wo er lange Jahre Lehrer war. Mit Anna und dem anderen Großvater fahren wir in das reiche Bauerndorf Schwolow, machen eine Schlittenfahrt in die Waldkatze und erfahren, eingebettet in die Erinnerungen, auch so manches aus seinem Leben. Aber auch die Schrecken der Hitlerzeit verschweigt die Erzählerin nicht. Sie gestaltet das Geschehen zum Teil so, wie sie es als Kind und Jugendliche erlebt hat, fügt aber auch hinzu, was sie erst später erfahren oder verstanden hat. Da sind der Brand der Synagoge, die Zerstörung der jüdischen Geschäfte, die Bespitzelung und Bedrohung Pastor Spittels, der von der Gestapo verhaftet worden ist und u. a. durch das Aufbegehren der Gemeinde wieder freikommt, dann aber im Sommer 1945 in einem Gefangenenlager stirbt. 40 Jahre später liest sie die Predigt zur Konfirmation 1945, die auch ihre Konfirmation gewesen wäre. Mit dem Bericht über Pastor Spittel führt Rebecca Lutter uns noch einmal in die Marienkirche, erzählt vom Bau des Gotteshauses, von seiner inneren Ausgestaltung. – Seit 1980 ist sie mehrere Male in Stolp gewesen und auch in Voßberg, dem Sommeraufenthaltsort der Familie. Mit diesem Sommeraufenthalt ist auch eine der anrührendsten Geschichten des Wiederfindens trotz aller Veränderung verbunden: die wieder gefundene „Große-Tanne“. Die „Sommerwege“, Symbol für eine unvergessene Heimat, werden von dem sie zudeckenden Schnee, des Winters 1945 in den Erinnerungen befreit und zu einem unverzichtbaren Teil des Lebens.
Rebecca Lutter schreibt, daß der Holzkathener Großvater sein Erzähltalent seinem Sohn vererbt habe. Dieses Erbe ist an sie weitergegeben worden.


Rebecca Lutter - Bernsteinwege

Rebecca Lutter:
Bernsteinwege. Erinnerungen an Mecklenburg
Verlag Langen und Müller, 1. Aufl. 1996

 

Rebecca Lutters Erinnerungen finden nach der Flucht aus Stolp, die für die Mutter unvorstellbar gewesen ist, ihre Fortsetzung in Mecklenburg, wo die Familie von Verwandten aufgenommen wird. Das Einleben in das Flüchtlingsdasein fällt schwer, und die Erinnerungen nicht nur an die unmittelbare Vergangenheit, sondern auch an die Zeit der Großeltern werden zu einem Halt in all dem Ungewissen. Rebecca Lutter erzählt von dem Einmarsch der Russen, deren Einquartierung ins Haus, der Bedrohung der Russen für die Frauen, der Typhuserkrankung von Mutter und Tante, durch die sie und eine Kusine die Verantwortung für die Familie übernehmen müssen, und dem seltsamen, nie durchschaubaren russischem Helfer und „Doktor“. Eine Nachricht vom noch in Gefangenenschaft befindlichen Vater gibt neue Hoffnung auf ein Leben in Ostfriesland. In der Zwischenzeit aber wird das Gutsland in Siedlerstellen aufgeteilt. Um ihr Dach über dem Kopf nicht zu verlieren, entschließen sich die Mutter und Tante, sich als Siedler eintragen zu lassen, obwohl sie nur auf eine Möglichkeit der Ausreise in den Westen warten. Knapp ein Jahr nach der Flucht aus Stolp verlassen Rebecca Luthers Familie und die ihrer Tante Mecklenburg. Sie lassen bei der Mecklenburgerin Mutter Block eine Bernsteinkette aus Stolp als Geschenk zurück. Jahre später gelangt ein Rest der Kette wieder zu ihnen zurück, ein großer Teil des Bernsteins hat Kleinkindern als Beißring beim Durchbruch der Zähne geholfen. – „Bernsteinwege“, Rebecca  Lutter nimmt uns mit auf den Weg der Flüchtlinge, die mit alten und neueren Erinnerungen ein Zuhause für sich und ihre Nachkommen schaffen wollen, sich durchbeißen wie die zahnenden Kleinkinder und deren Leben wie die Bernsteinperlen unübersehbar die Spuren der Zeit trägt.

 

(Besprechung von Gerlinde Sirker-Wicklaus)

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